Friederike Feldmann, Entwurf Raum 2 / Design, Room 2 © Friederike Feldmann

MAX BECKMANN / FRIEDERIKE FELDMANN
NACHTGEDANKEN

05.11.2021 – 09.01.2022

Mit der Ausstellung Max Beckmann / Friederike Feldmann NACHTGEDANKEN realisiert die Staatliche Graphische Sammlung München ein zweites Mal ein Projekt im Bereich der Gegenwartskunst zu dieser Schlüsselfigur der klassischen Moderne. Max Beckmanns Bildwelten bleiben bis heute rätselhaft und schier unerschöpflich – ein Phänomen, worauf zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler sensibel und neugierig reagieren. München ist als Austragungsort für diese Art investigativer Recherche zum Werk Beckmanns prädestiniert, ist doch sein künstlerisches Schaffen in der Museumslandschaft der Stadt mit umfangreichen und gewichtigen Werkgruppen präsent.

Den Auftakt zu einem ersten künstlerischen Dialog mit Beckmanns Werken machte der Videokünstler Omer Fast. Im zurückliegenden Winter 2019/20 hat er sich in einer filmischen Installation Beckmanns Lebenswelt interpretierend angenähert. Als Ansatzpunkt wählte er ein Selbstporträt des Künstlers aus dem Jahr 1917, das vor wenigen Jahren mit Unterstützung der Ernst von Siemens Kunststiftung für die Staatliche Graphische Sammlung München erworben werden konnte. Beckmann stellte sich in dieser Tuschfederskizze auf erschütternd realistische Weise dar, nachdem er 1915 einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte, der zu seiner Entlassung aus dem Militärdienst des Ersten Weltkriegs führte. Diese Zeichnung, in Fasts künstlerischem Diskurs von allen Seiten beleuchtet, wurde als Ausnahmewerk unter den zeichnerischen Selbstbildnissen des Künstlers einmal mehr dadurch bestätigt, dass analog zu Beckmanns abgründigem Realismus in den filmischen Bildern Omer Fasts die Verletzlichkeit der Psyche als Sollbruchstelle der menschlichen Existenz gedeutet wurde.

Max Beckmann, Selbstbildnis / Self-Portrait, 1902, Rohrfeder, aquarelliert / reed pen, watercolor, 236 x 206 mm © Staatliche Graphische Sammlung München, München
Friederike Feldmann, Bielefeld, nachts / Bielefeld, At Night © Friederike Feldmann, Courtesy Galerie Barbara Weiss, Berlin

The exhibition Max Beckmann / Friederike Feldmann NIGHT THOUGHTS is Staatliche Graphische Sammlung München’s second project in the field of contemporary art centering on this key figure of classical modernism.
Max Beckmann’s world of images remains mysterious and virtually limitless to this day – a phenomenon contemporary artists react to with both sensitivity and curiosity. Munich is predestined as a venue for this kind of investigative research into Beckmann’s work, indeed his artistic creation features as part of extensive and key work groups in the city’s museum landscape.

Video artist Omer Fast initiated a first artistic dialogue with Beckmann’s works. Last winter 2019/20 saw him approach Beckmann’s living environment interpretively in a cinematic installation. As a starting point he chose a self-portrait by the artist from 1917, which Staatliche Graphische Sammlung München was able to acquire a few years ago with the support of the Ernst von Siemens Kunststiftung. In this ink pen drawing Beckmann presented himself in a shockingly realistic way, after suffering a mental breakdown in 1915 which led to his discharge from military service during the First World War. This drawing, examined in Fast’s artistic discourse from all sides, was all the more affirmed as an exceptional work among the artist’s drawn self-portraits since Omer Fast’s cinematic images echoed Beckmann’s abysmal realism, thus highlighting the vulnerability of the psyche as a predetermined breaking point of human existence.

Aktuell stellt sich die Berliner Malerin Friederike Feldmann der Herausforderung, ihren künstlerischen Blick auf das Werk Beckmanns in einer raumumfassenden Wandmalerei Gestalt werden zu lassen. Sie lädt die Besucher dazu ein, in die Lebenswelt des Künstlers einzutauchen, um sie, zeitgenössisch interpretiert, ganz anders zu sehen, neue und ungewohnte Perspektiven auf die Motivwelt des Künstlers zu gewinnen und zu erkennen, wie zeitgemäß Beckmanns Werk jenseits kunstgeschichtlicher Einordnungen sein kann. Programmatisch gesprochen könnte man eine Beobachtung des altersweisen Malers Karl Horst Hödicke, dem die Sammlung im Sommer 2019 eine große Retrospektive gewidmet hat, auch der künstlerischen Recherche Feldmanns voranstellen: Hödicke bemerkte, dass Max Beckmann der einzige Künstler seiner Generation sei, der die Klassische Moderne unbeschadet überstanden habe. Will sagen Beckmanns Werk hält etwas bereit, das zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler im hohen Maße reizt, in Gegenbildern darauf zu reagieren.

Der Eindruck täuscht nicht, wenn man das Gefühl gewinnt, dass durch Friederike Feldmanns Rauminstallation wahrlich frei flottierende  „Nachtgedanken“ bildhaft werden und sich an den Wänden abzeichnen. Ein durchaus ambivalenter Begriff der sich in vielerlei Hinsicht mit emotional gegensätzlich beladenen Bedeutungen besetzen ließe, was ihn dazu präsentiert, titelgebend für die Ausstellung zu sein. Doch Feldmann tritt mit ihrer künstlerischen Intervention nicht dazu an, sich auf das Glatteis interpretatorischer Theorien zu begeben. Vielmehr versucht sie schon eingangs im Vitrinengang der Graphischen Sammlung einen Ist-Zustand ihrer eigenen künstlerischen Recherche zu dokumentieren und damit die Unfassbarkeit des Beckmannschen Kosmos zu thematisieren.

Berlin painter Friederike Feldmann now takes on the challenge of transforming her artistic view of Beckmann’s work in a room-encompassing wall-painting. She invites visitors to immerse themselves in the artist’s world, to see it in an entirely different light, interpreted in a contemporary way, to gain new and unusual perspectives on the artist’s world of motifs and to recognize how topical Beckmann’s work can be beyond art-historical classifications. An observation by seasoned painter Karl Horst Hödicke, to whom the collection dedicated a major retrospective in the summer of 2019, could programmatically speaking, also preface Feldmann’s artistic research: Hödicke noticed that Max Beckmann had been the only artist of his generation to survive the modern classical period unscathed. Meaning Beckmann’s work possesses something that contemporary artists find highly appealing, tempting them to react in counter images.

And when one has the feeling the truly free-floating “Night Thoughts” of Friederike Feldmann’s room installation become pictorial and stand out on the wall, the impression is not deceiving. A thoroughly ambivalent term is presented as the title of the exhibition – one that could be filled in many respects with emotionally charged meanings. But Feldmann does not wish to skate upon the thin ice of interpretative theories with her artistic intervention. Instead, she tries, right at the beginning of the Graphische Sammlung’s passageway display, to document an actual state of her own artistic research, focalizing the incomprehensibility of Beckmann’s cosmos.

Dagegen setzt sie in den Ausstellungsräumen darauf, Beckmanns aufgewühlte und verdichtete Bildwelten emotional zu neutralisieren und mit ihrer künstlerischen Intervention eine Distanz herzustellen, die die Betrachter ungewohnte erkenntnissetzende Erfahrungen machen lässt.
Im Vitrinengang blättert Feldmann von Vitrine zu Vitrine ihre allabendliche Auseinandersetzung mit Werk und Vita des Künstlers in zwölf Storyboards auf. Ihre Collagen aus zeichnerischen Skizzen, Fundstücken und Beckmann-Originalen aus der Sammlung wollen Momentaufnahmen sein. Ziel ist es nicht, zu einer abschließenden Bewertung zu kommen. Vielmehr gewinnen die Betrachter den Eindruck, Feldmann könnte augenblicklich ihre eigenen Nachtgedanken fortsetzten, die zwischen Ungewissheit und Entschlossenheit schwanken – ein Zustand, den man nur allzu gut aus Beckmanns collageartigen Bildwelten kennt.

In den Ausstellungsräumen dagegen installiert Friederike Feldmann zwei raumfüllende monochrom abstrakte Wandmalereien. Beckmanns aufgewühlte Bildwelten, in denen es normalerweise drunter und drüber geht, werden hier auf den Kern ihrer Wesenheit zurückgeführt. Ein geradezu analytischer Prozess, den die Malerin vollführt, und ein Angebot an die Museumsbesucher, Beckmanns Bildwelten als abstrakte malerisch-seismographische Aufzeichnungen zu erleben und ihnen in einer Art Raumerfahrung näher zu kommen. Im ersten Ausstellungsraum löst sich bildlich gesprochen der Raum geradezu auf und ein Raum hinter dem Raum wird sichtbar – ein Thema, das sich bei Beckmann immer als klaustrophobische Enge formuliert. Im zweiten Ausstellungsraum zerlegt Feldmann in einer schwarz gefärbten Akkumulation Beckmanns wiederkehrende rätselhafte Bildgegenstände in puzzelartige Versatzstücke, die das Auge zu einem variantenreichen Formenspiel jenseits ikonographischer Bedeutung herausfordern und die Form als Form in den Vordergrund rücken, die jetzt abstrakt und damit ungemein zeitgenössisch erscheint.

Friederike Feldmann, Entwurf Vitrine 4, links / Design Display Case 4, left-hand side © Friederike Feldmann
Friederike Feldmann, Entwurf Raum 1, Detail / Design, Room 1, Detail © Friederike Feldmann

On the one hand, she focuses on emotionally neutralizing Beckmann’s agitated and condensed pictorial worlds in the exhibition rooms creating a distance with her artistic intervention, which allows the viewers to make unusual insight-making experiences. In the passageway Friederike Feldmann browses in twelve storyboards from display case to display case through her nightly examination of the artist's life and work. Her collages made of graphic sketches, found objects and Beckmann originals from the collection are intended as snapshots. The goal is not to reach a final evaluation. Instead, the viewer is given the impression that Feldmann could immediately continue her own night thoughts, which sway between uncertainty and determination – a condition that is all too familiar from Beckmann’s collage-like pictorial worlds.

In the exhibition rooms, on the other hand, Friederike Feldmann installs two room-filling monochrome abstract wall paintings. Beckmann’s agitated pictorial worlds, usually real rollercoasters, are here traced back to the core of their essence. The painter performs an almost analytical process inviting museum visitors to experience Beckmann’s pictorial worlds as abstract painterly-seismographic records, to come closer to them in a kind of spatial experience. In the first exhibition room, the space virtually dissolves, a space behind the room becomes visible – a theme that Beckmann always formulates as claustrophobic constriction. In the second exhibition room, Feldmann disassembles Beckmann’s recurring enigmatic pictorial objects into puzzle-like pieces, into a black-colored accumulation, which challenges the eye to a varied interplay of forms beyond iconographic meaning and which moves the shape as shape to the forefront, now appearing abstract and thus immensely contemporary.

Auch Feldmanns Intervention ist nicht dazu angetreten, eindimensionale Antworten auf Beckmanns Werk bereitzustellen. Vielmehr versteht sie ihren künstlerischen Beitrag als ein Angebot, den Grundbedingungen von Beckmanns Bildwelten als Betrachter in einem Raumerlebnis nachzuspüren. Den Ausgangspunkt für ihre Arbeit aber bildet in beiden Räumen jeweils nur eine einzige von ihr aus dem Bestand der Graphischen Sammlung ausgewählte Zeichnung Beckmanns, die wie ein Motto ihrer eigenen Arbeit vorangestellt wird und sie in den Fokus rückt. Die Rede ist hier von dem undurchschaubaren frühen „Selbstbildnis“ in Tuschfeder von 1902 und dem nicht weniger geheimnisvollen Stillleben „Spiegel auf einer Staffelei“ von 1926. Beide Arbeiten bilden den Dreh- und Angelpunkt für Feldmanns beindruckende Recherche.

Michael Hering

 

Likewise, Feldmann’s intervention does not aim to provide one-dimensional answers to Beckmann’s work. Instead, she understands her artistic contribution as an offer to trace back the basic conditions of Beckmann’s pictorial worlds as a viewer within a spatial experience. However, the starting point for her work in both rooms is just one single drawing at a time by Beckmann, selected by her from the holdings of the Graphische Sammlung, preceding her own work like a motto and moving it into focus – the inscrutable early “Self-Portrait” in ink pen from 1902 and the no less mysterious still life “Mirror on an Easel” from 1926. Both works form the key focal point of Feldmann’s impressive research.

Michael Hering

Max Beckmann, Spiegel auf einer Staffelei / Mirror on an Easel, 1926, Schwarze Kreide / black chalk, 504 x 648 mm © Staatliche Graphische Sammlung München, München