Rei Naito
breath
07.06. – 13.08.2023
Im Fokus der Installation breath steht allein der menschliche Atem. Schenken wir ihm auch selten Beachtung, ist er neben dem Herzschlag doch das zentrale Lebenszeichen unserer Existenz. Der Atem und sein Leben spendender Rhythmus sind ein Faszinosum, das in Schöpfungsmythen vieler Kulturen eine bedeutsame Rolle spielt. Der Atem haucht uns das Leben förmlich ein.
Zweifellos zählt das Werk der japanischen Künstlerin Rei Naito (*1961) zu den herausragenden Positionen der internationalen Gegenwartskunst. Ihre Installationen, zu denen auch breath zählt, stehen konzeptuell und ästhetisch den Arbeiten der amerikanischen Malerin Agnes Martin (1912 – 2004) und der deutsch-amerikanischen Bildhauerin Eva Hesse (1936 – 1970) nahe. Ihnen gemeinsam ist die kompromisslose Suche nach einer ultimativen ästhetischen Quintessenz.
Das Herzstück der Ausstellung breath bilden 50 Aquarelle, die Rei Naito im zurückliegenden Jahr für München geschaffen hat. Die chronologische Hängung lässt sie wie ein visuelles Tagebuch erscheinen. Der Werktitel colour beginning benennt den Auslöser der künstlerischen Recherche. Rei Naito lässt die Farbe für sich sprechen. In den zarten Malereien sprudelt die Wasserfarbe sozusagen unvermutet aus dem Nichts des weißen Blattes hervor. Die kompositorische Ordnung scheint in Fluss zu geraten und über die Blattgrenzen hinaus drängen zu wollen. Das jeweils zweite Blatt der zu Diptychen gruppierten Werke reagiert auf die koloristische Setzung des ersten. Naitos wechselvolles malerisches Zwiegespräch, das im Verlauf des Jahres unterschiedliche Tonlagen anstimmt, lässt sich von Blatt zu Blatt ablesen: Welche Bedeutung hat es, wenn die Farbe, hier als Metapher für unsere Lebensfreude, zurückkehrt? Wie geht man mit der neuen Lebenslust um, nachdem die Welt in den letzten zwei Jahren den Atem angehalten hat und das Leben nahezu stillstand?!
breath is at once the title and the subject of the present installation. While we rarely pay attention to it, breath, like our heartbeat, is the central vital sign of our existence. Breath and its life-giving rhythm are mysteries that play key roles in the creation myths of many cultures. With our breath, we literally inhale life.
Doubtlessly, the work of Japanese artist Rei Naito (*1961) constitutes one of the eminent positions in contemporary art. Her installations – breath among them – are related conceptually and aesthetically to the works of American painter Agnes Martin (1912–2004) and German-American sculptor Eva Hesse (1936–1970). They all share the uncompromising search for an ultimate aesthetic quintessence.
At the core of our exhibition breath are fifty watercolours Rei Naito created for Munich during the past year. Their chronological presentation makes them appear like a visual diary. The group‘s title colour beginning points to the spark that triggered Rei Naito’s artistic investigation. She lets colour speak for itself. In her tender paintings, the watercolour appears to be sputtering from the nothingness of the white sheet. Any compositional order seems to have submitted to a flow and to be pushing beyond the edges of the sheet.
The works are grouped into diptychs, of which each second sheet constitutes a reaction to the coloration of the corresponding first sheet. Naito’s mutable painterly dialogue, which subtly varies colours during the year, can be detected in one sheet after the next. What does it signify when colour, here a metaphor for our joy in life, returns? How to deal with this new lust for life, after the world has held its breath for two years and life almost came to a standstill?!
At first glance, we are tempted to read the radical minimalism of Rei Naito’s gentle installation merely as an expression of the incomparable perfection and ascetic severity we admire in the Japanese aesthetic, which remains unmatched in the Western hemisphere. However, when the joyous event happens and we are touched by Rei Naito’s Munich exhibition breath, we experience intimately that this installation is about much more and that breath speaks to universal questions that move us all. These questions constitute our inner compass that guides us along our paths.
REI NAITO KATALOG BREATH
Auf den ersten Blick könnte man versucht sein, in dem radikalen Minimalismus von Rei Naitos feinnervigen Rauminstallationen einzig die von uns bewunderte unvergleichliche Vollkommenheit und asketische Strenge der japanischen Ästhetik zu sehen, die in der westlichen Welt bis heute nahezu unerreicht bleibt. Stellt sich aber der glückliche Augenblick ein, von Rei Naitos Münchner Ausstellung breath berührt zu werden, erlebt man hautnah, dass es in der Installation um weitaus mehr geht und mit breath universelle Fragen thematisiert werden, die uns alle bewegen. Sie sind Teil unseres inneren Kompasses, der uns unseren Weg zeigt.
In den Ausstellungsräumen der Staatlichen Graphischen Sammlung München spricht uns Rei Naito auf sehr unterschiedliche Weise mit subtilen künstlerischen Setzungen an. Wir sind eingeladen, Teil der Installation und handelnde Akteure zu werden. Jeder tritt für sich selbst in einen erkenntnissetzenden Dialog mit seinen Erfahrungen, Wünschen und Perspektiven für das Leben ein.
breath fordert unsere Achtsamkeit heraus. Es sind eben diese leisen, flüchtigen Sinneseindrücke, denen wir uns kaum auszusetzen wagen, in unserer auf Leistung und Effizienz bestimmten Welt. Mag sein, dass die Geschicke der letzten Jahre in uns die Sehnsucht zum Umdenken ausgelöst haben. Dann ist jetzt der richtige Zeitpunkt, Rei Naito in der Pinakothek der Moderne als einem Haus für Gegenwartskunst vorzustellen.
Mit der Ausstellung breath von Rei Naito wirft die Staatliche Graphische Sammlung München zum wiederholten Mal nach den jüngsten Projekten mit Gerhard Richter, Michael E. Smith, Cecily Brown und nicht zuletzt Tony Cragg kritisch die Frage auf nach der Bedeutung der Zeichenkunst im 21. Jahrhundert als Impulsgeberin innerhalb der bildenden Künste und nach ihrer Rolle als existenzielle Ausdrucksform des menschlichen Intellekts und seiner Schöpfungskraft. Mit diesem Projekt wünschen wir uns einmal mehr, mit Ihnen einen Blick in die vielversprechende und spannende Zukunft der Zeichenkunst zu werfen.
Inside our exhibition galleries, Rei Naito addresses us in various ways with delicate artistic means. We are invited to become part and agents of the installation. Each on our own do we enter into an illuminating discourse with our personal experiences, hopes and perspectives for life.
breath challenges us to be mindful. It is exactly these imperceptible, fleeting sensory impressions to which we hardly dare subject ourselves in this world that is governed by achievement and efficiency. Possibly the events of recent years have triggered in us a desire to rethink. So this is the right time to present to you Rei Naito in the Pinakothek der Moderne, a place for contemporary art.
With the exhibition breath by Rei Naito, the Staatliche Graphische Sammlung München once more, after recent projects with Gerhard Richter, Michael E. Smith, Cecily Brown, and Tony Cragg, addresses the question as to the importance of drawing in the 21st century as a driving force within the visual arts and examines its role as an existential form of expression of the human intellect and its creative energy. With this project as well, we are hoping to share with you a glimpse into the promising and exciting future of drawing.