Michael E. Smith
Auf den ersten Blick sieht es so aus, als hätte sich jemand in den Räumen der Graphischen Sammlung einen Spaß erlaubt. Die Vitrinen im
Eingangsbereich, in denen sonst edle Graphik gezeigt wird, sind auf die Schnelle mit bunt durcheinander gewürfelten Decken verhangen
worden, und in der Ausstellung selbst scheinen letzte Reste einer vergangenen Geburtstagsparty liegen geblieben zu sein.
Erst auf den zweiten Blick fragt man sich: »Was ist hier wirklich geschehen?« Alles scheint in eine Schieflage geraten. Zwar kommen einem die zurückgelassenen, verlebten Gegenstände irgendwie bekannt vor, doch wirken sie verfremdet und einer neuen Sinnhaftigkeit anheimgegeben: Unvermittelt treffen Humor und Tiefsinn, Lachen und Trauer, Hoffnung und Resignation an diesem Ort aufeinander.
Die aktuelle Ausstellung in der Staatlichen Graphischen Sammlung München ist eine Rauminstallation des amerikanischen Künstlers
Michael E. Smith (*1977 Detroit, Michigan, USA). Er selbst beschreibt seine Arbeit für das Haus mit den Worten: »I want to let the material
world draw«, und fügt hinzu: »Most of the time, when I work in an exhibition space I am waiting for things that will show up.«
In diesem Sinne sollte es sich der Besucher leicht machen und Smiths Objekte für das nehmen, was sie sind – Gebrauchsgegenstände,
die eine Metamorphose durchlaufen haben und den Betrachtern neue Sichtweisen auf vermeintlich Bekanntes einräumen. Es braucht einen
Augenblick, bis sich die Dinge in ihrer neuen Natur zu erkennen geben. Sehen wir aber genauer hin, beginnen sie, von selbst zu erzählen.
Michael E. Smiths Werke sind achtsam geflüsterte Botschaften zum Status Quo unserer Gegenwart. Der Künstler versteht sie als offene
Angebote an den Betrachter ohne eindimensionale Antworten bereitzuhalten.
At first glance in the exhibition galleries of the Staatliche Graphische Sammlung it appears as though someone had played a prank on
us. The showcases in the entry that usually display precious works of graphic art, are now hastily covered with a wild mix of blankets,
and the exhibition itself looks as though leftovers of a birthday party were scattered all over it.
At second glance, we wonder: »What exactly happened here?« Everything seems to have slanted sideways. In one way, the long-lived
and left-behind objects seem familiar, in another way, they look estranged and given over to new meanings: Humor and deeper
meaning, laughter and mourning, hope and resignation unexpectedly converge in this space.
The current exhibition of the Staatliche Graphische Sammlung München is a spatial installation by the American artist Michael E.
Smith (born in Detroit, Michigan, USA, in 1977). He himself said about his exhibition for our museum: »I want to let the material world
draw«, adding: »Most of the time when I work in an exhibition space, I am waiting for things that will show up.«
In this sense, visitors ought to take Smith by his word and his objects for what they are —articles of use that have gone through a metamorphosis and are offering us new perspectives on familiar things. It takes a moment before these objects reveal their new nature to us. But if we look closely, they start to tell us stories. Michael E. Smith’s works are carefully whispered messages about the status quo of our present. The artist thinks of them as open invitations to visitors without one-dimensional answers.
Anfangs- und Endpunkt von Smiths Münchner Ausstellung ist der Vitrinengang. Seine Klangfarbe stimmt auf die Ausstellung ein. Durch
die verhangenen von hinten beleuchteten Scheiben wird der Raum nur gedämpft mit Licht erfüllt, wirkt weder abweisend noch anheimelnd.
Von der Physis der dürftigen Decken berührt, verliert sich beim Flaneur das Gefühl von Wärme, das die Decken ihrem optischen Eindruck
nach beim Entlangflanieren vermitteln mögen und macht der verstörenden Wahrnehmung einer elementaren Form primitiver Behausung Platz. Feinsinnig balanciert Smith Anspruch und Realität dieser Objekte in seiner Rauminstallation aus. Bei aller Dürftigkeit schaffen sie eine Form von Intimität und bescheidener Privatsphäre, in die man eindringt, auch wenn man nicht weiß, was diese Decken verbergen.
The starting and finishing point of Smith’s Munich exhibition is the showcase passage. Its tonality sets the mood for the exhibition.
Because the glass windows are covered-up and illuminated from behind, the space is only dimly lit, it seems neither off-putting nor
inviting. Touched by the visual impression, namely of warmth, the modest blankets leave on us when we leisurely pass them, this perception is soon obliterated by the realization that here is an elementary form of primitive housing. Very subtly, Smith finds a balance in his installation for what the objects claim to be and what they actually deliver. In all their modesty, they provide a kind of intimacy and humble private sphere that we are invading even while we do not actually know what the blankets are hiding.
Auch um der Ursache für ein monotones Surren auf den Grund zu kommen, das im Vorangehen immer penetranter wird, betritt der Besucher den Ausstellungsraum. Dort nehmen Michael E. Smiths Gedanken über die Zeichenkunst weiter ihren Ausgang in der Hardware, was er mit den Worten beschreibt: »I wanted to work with the situation of drawing.« Eine klassische Ausstellung mit Zeichnungen konnte er sich nicht vorstellen, gleichwohl er ein begnadeter Zeichner ist. Er wollte, dass überkommene Gebrauchsgegenstände zeichnerische Spuren mit sich führen, auf zeichnerische Gesten verweisen oder gar zeichnerische Phänomene evozieren, ohne dass ein einziger Strich gesetzt ist. Wie bereits im Vitrinengang ist der Ausstellungsraum in ein fahles Licht getaucht und scheint aus dem Lot geraten. Aus unerklärlichen Gründen wurden ein Teil der Lüftungsgitter entfernt, der Boden wirkt hier tiefer gelegt und gibt den Blick frei unter die Haut des perfekten Museumsraums.
Ein umgelegter ausgeweideter Küchenherd mag der gleichen Intention folgen. Er stößt an die rechte halboffene Eingangstür, schafft einen Zwischenraum und stört empfindlich das Gefühl von Ordnung wie wir sie für ein Museum erwarten. Noch immer im Eingangsbereich zur Ausstellung kreiselt mit dem uns schon länger begleitenden quälenden Motorengeräusch warnend ein Brotmesser gegen den Uhrzeigersinn auf dem Boden. Erst bei sehr genauem Hinsehen erkennt man, dass die Klinge zu einer fliegenden Fledermaus – Glücksbote und Unheilsbringer zugleich – aufgeworfen ist, die wie ein Menetekel über das sich anbahnende Szenario schwebt.
Unmittelbar daneben fällt der Blick auf ein nachlässig gedrucktes, an einigen Stellen verschmiertes »Happy Birthday«-Banner, das auf dem
Boden abgelegt so gar keine Freude aufkommen lässt im nahezu leeren Raum – lähmende Abwesenheit, von was auch immer, scheint hier
alles zu bestimmen. Einzig zwei auf gleicher Höhe rücklings gedrehte identische kreisrunde Tischplatten künden wie der umgelegte Herd
von glücklicheren Zeiten menschlichen Zusammenseins. Auf ihnen zeichnet sich aus armseligen, zusammengefundenen Materialien jeweils
ein brüchiges »Peace«-Zeichen ab. Frieden für was oder für wen?! Welchen Sinn macht es, in den linearen Schwüngen der Schnürsenkel
menschliche Konturen als schattenhaftes Substitut für den Menschen wiederzuerkennen?!
Triggered to find out the source of a monotonous whir that has been steadily increasing as we approach, we enter the exhibition
gallery. Here as well, Michael E. Smith’s thoughts about the art of drawing take their departure in the hardware. Or, as he puts it: »I
wanted to work with the situation of drawing.« Even though he is an ingenious draftsman he was not willing to imagine a classical
exhibition with drawings. He wanted discarded articles of use to visibly bear drawn traces, for them to refer to gestures of drawing, or
even, to evoke phenomena of drawing—all of this without him having drawn a single line.
Like in the corridor, the exhibition gallery appears in pale light and as if slanted. For unknown reasons, parts of the grates from the
ventilation shafts have been removed, the floor seems to have been lowered allowing for a glimpse behind the façade of the perfect
museum space. Apparently with the same intention, a kitchen stove lies sideways and is emptied out. It touches the right partly ajar
entry door, creates a space in-between, and noticeably disturbs the sense of order we are used to in museums. Also in this first part of
the gallery, we encounter the electric noise that has been accompanying and bothering us, only to find that it stems from a bread-knife
that is alarmingly rotating counterclockwise on the floor. Only at a closer glance do we discover that its blade has been shaped to look
like a bat—both a lucky and an unlucky charm that reigns over the impending scenario like a bad omen.
Right next to the knife a carelessly printed and partly smudged »Happy Birthday«-banner has been laid out on the floor. It stifles all joy
in this nearly empty space, where a paralyzing absence of who-knows-what seems to dominate. Like the stove on its side, two identical
round table tops turned over and placed next to each other on the floor herald happier times of human socializing. On each of these is
delineated by humble and found materials a fragile peace sign. Peace for what or whom? What is the use of deciphering in the wavy
lines formed by the shoe-strings human contours as though they were substitutes for human beings?
Im hinteren Raum scheinen zwei Sitzsäcke in den Kabelschacht abgleiten zu wollen. Auch sie künden wie die am Ansatz der Lehne zersägten
und um neunzig Grad gedreht wieder zusammengesteckten Sitzschalen der beiden Vintage »Eames Chairs« aus den 1960er-Jahren von der
Abwesenheit des Menschen.
Gegenüber an der Wand, auf klassische Weise museal präsentiert, prangt die groteske Persiflage einer Mickey Mouse-Maske, die sich über
die Situation zu erheben und alles zu verlachen scheint. Auf eine alte Bratpfanne montiert, erweckt sie den Eindruck eines Handspiegels in
dem sich der Betrachter selbst als Witzfigur erblicken könnte.
Halb im Rücken dieses ironisierenden Konstrukts wird man an der eingestellten Wand weit oben rechts eines orangefarbenen kaputten
Kinderschlittens gewahr, der in die Lüfte zu entschweben scheint. Nach sich zieht er einen durch einen Stab verlängerten Zeichenstift,
so als könnte der Abflug mit ihm als »Fahrtenschreiber« zu Papier gebracht und damit dokumentiert werden, für alle, die diesem Start ins
Ungewisse folgen mögen, wenn es ihnen gelingt. Letztlich bleibt offen, ob je eine Party staatgefunden hat oder ob dies alles nur dunklere
und lichtere Träume sind.
Michael Hering
Further on in the, gallery two bean bags appear to be sliding into the cable pit. They bear witness to the absence of people, and so
do the two vintage 1960s Eames chairs that are sawn apart at the lower backs only to be remounted at ninety-degree angles. On the
opposite wall and presented like a traditional exhibit is a grotesque persiflage of a Mickey Mouse mask that seems to be rising above
the situation and to be laughing at everything. Mounted on an old frying pan, it looks like a hand-held mirror in which visitors might
see themselves as comic figures.
Turning our backs to this ironic construct, we discover high up on the dividing wall a broken orange children’s snow sled that appears
to be floating up into the air. It pulls after it a drawing pen elongated by a staff as though the sled’s departure might be captured and
documented on paper with this pen serving as trip recorder for all those who would want to follow this take-off into the unknown —
if only they could. In the end we never know if there actually was a party or if these were merely darker and lighter dreams.
Michael Hering