GERHARD RICHTER
54 ZEICHNUNGEN 3 GRAUE SPIEGEL
1 KUGEL
04.02.2021 – 22.08.2021
Gerhard Richter und die Kunst der Zeichnung
Wir werfen einen Blick zurück ins Frühjahr 2020. Das Atelier des Malers ist aufgelassen, der Werklauf der Malereien abgeschlossen. In der weltlichen Abgeschiedenheit des Ateliers entstehen unter Gerhard Richters Hand nunmehr Zeichnungen, die seiner selbst auferlegten Maxime Genüge tun müssen: „Das Eigentliche, das Schwierigste ist aber, etwas zu machen, das gut ist.“ Für die Zeichnung gilt das im Besonderen, da jedes Pentimento, jede Unsicherheit und Inkonsequenz auf dem Papier Spuren hinterlassen würde.
Es ist an der Zeit, in diesem Freiraum jenseits überbordender Diskurse zu seinem Gesamtwerk über Zeichenkunst nachzudenken – Gerhard Richters Zeichenkunst. Konzentriert wird sich hier auf die Auswahl seiner jüngsten graphischen Arbeiten für das Münchner Ausstellungsprojekt. Die Fülle dieses virtuosen Werkblocks ist mit Blick auf sein zeichnerisches Gesamtwerk überraschend. Anstelle eines Intermezzos setzt sie einen fulminanten Schlussakkord.
Schon bei unserem ersten Gespräch in seinem Atelier im Juli 2020 werden die Pläne für das Ausstellungsprojekt 54 Zeichnungen ∙ 3 Graue Spiegel ∙ 1 Kugel konkret. Von Anfang an steht außer Zweifel, dass Gerhard Richter einzig aktuelle Zeichnungen, die wenige Wochen zuvor entstanden sind, zeigen möchte. Über die Raumpläne und Ausstellungsansichten macht er sich schnell ein Bild von der Ausgangssituation. Mehr oder weniger wortlos ist klar, dass er sich im sogenannten Vitrinengang keine Werke auf Papier vorstellen möchte, und bittet sich Bedenkzeit aus. Später stellt er mit nur einem Satz fest: „Ich sehe hier eine Möglichkeit für Skulpturen.“ Derweil ziehen mich beim Gang durch das Atelier zwei seiner großformatigen grauen Spiegel in ihren Bann, Werke, die mich schon als Student auf der documenta IX begeisterten. Spontan kommt in mir der Wunsch auf, sie den Zeichnungen beizugeben. Gegenüber dem Künstler lasse ich meine Begeisterung für mich sprechen, es gibt ja nichts zu verlieren und die Spiegel wären das Nonplusultra.
GERHARD RICHTER AND THE ART OF DRAWING
Spring 2020. The artist’s studio was left open, his painting oeuvre was closed. In the remoteness of his studio, Gerhard Richter now created drawings that he subjected to his self-imposed maxim: “The most fundamental, the hardest thing is to make something that is good.” This is especially true for drawings because every pentimento, every insecurity and caprice leaves traces on the paper. In this liberating environment, far removed from the rambling discourses on his life’s work, it was high time to start considering Gerhard Richter’s drawings. The focus of the Munich exhibition is on three suites of his most recent drawings. The wealth contained in this virtuoso group of works is surprising when considered in the context of his drawing oeuvre. Instead of an intermezzo it constitutes a momentous final chord.
As early as in our first conversation in July 2020, our plans for the exhibition 54 Zeichnungen ∙ 3 Graue Spiegel ∙ 1 Kugel took shape. Right from the beginning there was no doubt that Gerhard Richter wanted to show only recent drawings he had created in the weeks before. He carefully studied the reproductions of some of his older drawings I had brought, and at times his face lit up or looked pensive. Yet he would not consider them for our exhibition. As he looked at floor plans and exhibition shots, he soon had an idea regarding the available space. Almost wordlessly he conveyed his wish that no works on paper be on display in the Vitrinengang, an enfilade of six bulky, six-foot display cases leading up to the exhibition gallery. He begged for time to think it over. Later he briefly remarked: “I see a possibility for sculpture here.” In the meantime, I was drawn to two large-scale grey mirrors in his studio, works I had admired years before at documenta IX. Spontaneously I expressed the wish to add them to the drawings. I did not hide my enthusiasm from the artist because I had nothing to lose and thought the mirrors would be the ne plus ultra.
Das Ausstellungskonzept
Bei meinem zweiten Besuch wenige Wochen später werden die ersten Ideen finalisiert: Drei Suiten von Zeichnungen sind gesetzt. Zwei großformatige Spiegel und ein wesentlich kleinerer Spiegel im Querformat finden beiderseitige Zustimmung, nur eine Lösung für die Vitrinen steht noch aus. Auf Gerhard Richters unverhoffte Frage, ob ich mir einzig sein Objekt Kugel in einer der zwölf Vitrinen vorstellen könne, antworte ich mit einem klaren Ja.
Schlussendlich wird es eine serielle Hängung in asketischer Strenge sein, sublimiert von drei Spiegeln an drei Stirnseiten der beiden Ausstellungsräume. Eingangs ruht einzig eine Kugel in einer der zwölf ansonsten unbestückten Schauvitrinen für Graphik. Auf ihrer polierten Oberfläche spiegelt sich der monotone Umraum. Die Kugel ist provozierendes Readymade und rätselhafter Vorbote zugleich. Doch der nüchterne Anschein trügt. Mit dem Projekt 54 Zeichnungen ∙ 3 Graue Spiegel ∙ 1 Kugel ist Gerhard Richter eine radikale Präsentation seiner aktuellen Zeichnungen im Museumsraum gelungen.
THE CONCEPT FOR THE EXHIBITION
On my second visit a few weeks later, we finalized our initial ideas: We agreed on three suites of drawings. Two large-scale mirrors and one considerably smaller mirror in landscape format found both our approval. What we were missing was a solution for the display cases. Gerhard Richter’s unexpected question, whether I could imagine just having a sphere in one of the cases, I greeted with a ‘yes’.
Eventually we agreed on a somber serial installation, sublimated by three mirrors at the narrow front, back and middle walls. Near the entrance in the Vitrinengang one sphere was to be placed in one of the twelve otherwise empty display cases for graphic art. The surrounding monotonous space we imagined mirrored in its polished surface. The sphere would be both a provoking readymade and an ominous presence. Yet the sober presentation is misleading. With his exhibition 54 Zeichnungen ∙ 3 Graue Spiegel ∙ 1 Kugel Gerhard Richter has succeeded in a radical presentation of his latest drawings within the museum space.
Spiegel im Spiegel (Arvo Pärt)
Richter bringt uns in seiner Münchner Ausstellung in Konfrontation mit den Spiegeln in eine kathartische Situation. Gleich einer Leerstelle werfen uns die Spiegel auf uns selbst zurück. 1981 hatte Richter folgende Notiz festgehalten: „Polemisch: Degradierung aller anderen Bilder; Provozierung des Betrachters, der sich selbst anstelle eines Bildes sieht.“ Ob wir die Zeichnungen sehen oder nicht sehen ist nicht mehr die Frage, sondern vielmehr, ob wir in unserem Spiegelbild versinken oder wieder von ihm loskommen. Wem es gelingt, der hat alle Zeit der Welt, sich auf die ausgestellten Zeichnungen einzulassen.
Mit diesem Projekt erörtert die Staatliche Graphische Sammlung München zum wiederholten Mal die Frage nach dem Stellenwert der Zeichenkunst im 21. Jahrhundert als Impulsgeberin innerhalb der bildenden Künste und befragt ihre Rolle als existenzielle Ausdrucksform menschlichen Intellekts und seiner Schöpfungskraft.
Michael Hering
Mirror in the Mirror (Arvo Pärt)
In his Munich exhibition Richter, in confronting us with his mirrors, submits us to a similar cathartic situation. Like voids, the mirrors throw us back upon ourselves. In 1981 Richter made the following note for himself: “Polemically: degradation of all pictures; provocation of the viewer who sees himself instead of an image.” The question is no longer whether we see the drawings or not, but rather, whether we drown in our reflection, or manage to tear ourselves away from it. Those who succeed have all the time in the world to engage with the drawings in the exhibition.
With this project the Staatliche Graphische Sammlung München, once again, explores the standing of drawing in the 21st century as a catalyst among the fine arts and as an existential mode of expression of human intellect and creativity.
Michael Hering
Künstlerkatalog/ Artist Catalog
Kugel/ Sphere
Credits Filme
Idee & Konzept / concept: Bernd Degner / Kamera / camera: Thomas Zothner / Ton & Schnitt / sound & cut: Jan Tauber / Graphische Bearbeitung / Graphics: B.O.A. Videofilmkunst, Gábor Bartal
Copyright: Staatliche Graphische Sammlung München 2021